Mardi Gras: Der wilde Karneval von New Orleans (2024)

Mardi Gras: Der wilde Karneval von New Orleans (1)

Während des Karnevals in New Orleans bilden jahrhundertealte Traditionen, Kommerz und Politik ein explosives Gemisch. Besonders dann hat die Südstaatenstadt mehr gemein mit der Karibik oder Afrika als mit den USA. Ein Besuch bei Geistern und Voodoo-Königinnen, die mehr sind als blosses Halligalli.

David Signer (Text), Bryan Tarnowski (Bilder), New Orleans

16 min

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Amy Stelly steht auf der Veranda ihres Hauses in Treme und blickt auf das Mardi-Gras-Treiben in ihrem Quartier. Es ist eines der ältesten von New Orleans. Hier befand sich der Sklavenmarkt, später breitete sich in den schummrigen Gassen das Rotlichtviertel Storyville aus. Dann wurde es zum Zentrum der freien Schwarzen und zur Wiege des Jazz.

Jetzt, während des Karnevals, ziehen Blaskapellen vorbei, alle, vom Kind bis zur Oma, tanzen, Männer werden zu Ballerinen, Frauen zu Löwinnen, Knaben zu Bankdirektoren und Büroangestellte zu Tropenvögeln. Anwohner haben ihre Sofas aufs Trottoir geschleppt, wo sie Weisswein trinken, Jugendliche knattern mit aufgepimpten Mofas und Ghettoblastern vorbei.

Stelly ist eine 69-jährige Stadtplanerin, die sich ihr Leben lang dafür eingesetzt hat, dass ihr Viertel authentisch und lebendig bleibt. «New Orleans und Mardi Gras sind zugleich uramerikanisch und ein Kontrapunkt zu den USA des Puritanismus, der Prohibition und Prüderie», sagt sie.

«Hier in New Orleans machen wir keine Trennung zwischen dem Profanen und dem Heiligen; die Bar liegt gleich neben der Kirche.» Man könnte auch sagen: New Orleans hat mehr gemein mit Karibik, Afrika, Frankreich und Spanien als mit Texas oder Florida.

Stelly wird uns mehrere Tage lang durch den Karneval begleiten, auf einer Reise in die Vergangenheit zu den Anfängen des Mardi Gras bis in die Gegenwart dieser Stadt der Kulturen, Katastrophen und der grenzenlosen Lebensfreude.

Partybesucher und christliche Bibelgruppen

Während der Pandemie begann Stelly wie viele andere damit, ihr Heim zu dekorieren und es während des Karnevals zum «open house» zu machen.

Heute hat sie beim Eingang mit Schaufensterpuppen das Picasso-Gemälde «Les Demoiselles d’Avignon» mit afrikanischen Masken nachgebaut. «Kulturelle Wiederaneignung», sagt sie. «Picasso bediente sich bei der afrikanischen Kunst, ich nehme sein Gemälde und mache etwas Neues daraus für uns Afroamerikaner.»

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Seit der Morgendämmerung schauen Bekannte und Nachbarn herein, bewundern das 120 Jahre alte, geschmückte Haus und bedienen sich in der Küche mit lokalen Spezialitäten wie Gumbo (Reis mit Austern, Krabben, Okra und viel Öl) oder Jambalaya, einer Art Louisiana-Paella, mit einem kräftigen Schluck vom Anisschnaps Ojér oder dem Sazarac-co*cktail zum Abschluss.

«Die Stadtverwaltung möchte aus New Orleans eine Walt-Disney-Kulisse machen», sagt Stelly. «Auch der Mardi Gras wird immer gleichförmiger. Dieser Verflachung setzen wir unsere Kreativität entgegen, die aus unserem gelebten Alltag erwächst und sich nicht kaufen lässt.»

Nach der Zwangspause wegen Covid-19 konnte New Orleans dieses Jahr wieder richtig feiern. Es heisst, seit zwanzig Jahren hätten nicht mehr so viele Leute am Mardi Gras teilgenommen. Es waren offenbar mehr als eine Million, also das Dreifache der Bevölkerung.

Ein grosser Teil der Besucher sind Touristen. Ihnen geht es vor allem ums Partymachen. Die Bourbon Street, die berühmt-berüchtigte Vergnügungsmeile im zentralen French Quarter, wo sich Bar an Bar drängt, ist am Samstagabend so voll, dass es fast kein Durchkommen mehr gibt. Für Autos ist zwar die Strasse abgesperrt, doch das Gedränge der Fussgänger ist so dicht, dass man sich wie in zähflüssigem Sirup vorwärtsbewegt.

Viele spazieren mit Gläsern, so gross wie Vasen, mit bunten Drinks herum, von denen lange Schläuche wie Nabelschnüre zu ihren Mündern führen. Für die amerikanischen Touristen muss das ein subversives Vergnügen sein, droht ihnen doch anderswo die Festnahme, wenn die Polizei sie mit einer offenen Bierdose in der Öffentlichkeit erwischt. Auch Zigaretten werden auf den Trottoirs in einer offensiven Art geraucht, die man sonst von Pubertierenden kennt. Denn im restlichen Amerika ist das Rauchen in der Öffentlichkeit inzwischen fast zum Kennzeichen von Kriminellen und Prostituierten geworden.

Und es wird noch ausgelassener.

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Es gehört zum Mardi Gras, dass den Zuschauern von den Paradewagen billige, bunte Perlenketten zugeworfen werden. Insbesondere an der Bourbon Street passiert das auch von den Balkonen mit den für New Orleans typischen gusseisernen Geländern. Um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, entblössen die Frauen auf der Strasse unten ihre Brüste – bis sie ihre Perlen bekommen.

Unterwegs sind auch auffällig viele Polizisten, dieses Jahr verstärkt von Uniformierten des Gliedstaats Louisiana. Der neue Gouverneur Jeff Landry hat sie abkommandiert, weil aus seiner Sicht die Bürgermeisterin LaToya Cantrell der Kriminalität in der Stadt nicht Herr wird. Das wird zwiespältig aufgenommen.

Manche sind dankbar für die Hilfe, andere – insbesondere Afroamerikaner – empfinden die Entsendung der State Police als Einmischung und als Zeichen des Misstrauens, im Extremfall sogar als paternalistische, entmündigende, ja rassistische Geste. Denn die Bürgermeisterin ist schwarz und demokratisch, der Gouverneur, der Trump nahesteht, weiss und republikanisch.

Taschendiebstahl und Schlägereien sind auch an diesem Samstagabend allgegenwärtig, aber nicht nur. Kurz nach Mitternacht wird ein Mann mitten im French Quarter erschossen – was aber die Party kaum stört.

Wie ein Menetekel ob all diesem Treiben stellen sich fundamentalistische Christen den Karnevalsbesuchern in den Weg. Die rotgekleideten Gläubigen halten den Torkelnden und Tanzenden beschwörend die Bibel entgegen und schwenken Schilder mit Slogans wie «Alle Trinker kommen in die Hölle» oder «Schwöre der Sünde ab und folge Jesus». Einer schleppt sogar ein riesiges Kreuz über den Asphalt.

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Die frühen Geheimgesellschaften

Für viele Touristen beschränkt sich der Karneval auf das Halligalli rund um das French Quarter, und sie bekommen wenig mit von der wechselvollen Geschichte und Kultur des Mardi Gras.

Mardi Gras ist die französische Bezeichnung für den «Fetten Dienstag», also den letzten Tag des vor allem in katholischen Gebieten gefeierten Karnevals – vor dem Aschermittwoch, dem Beginn der Fastenzeit. Es schwingt deshalb, zumindest in New Orleans, auch etwas von Finale mit, von einer Lebensgier angesichts des unvermeidlichen Todes, von «Carpe diem» und «Memento mori».

Laut Historikern waren es die früheren französischen, katholischen Siedler, die bereits 1699 den ersten Mardi Gras durchführten. Gesetzgeber, Ordnungshüter und Kirchenvertreter versuchten in den folgenden Jahrzehnten immer wieder, das wilde Treiben mit Kostümen, Masken, Erotik, Tanz, Travestie und Schnaps zu verbieten – ohne Erfolg.

In dem Bemühen, den Mardi Gras zu institutionalisieren, gründeten einige Geschäftsleute 1856 die erste Geheimgesellschaft namens Mistick Krewe of Comus, der viele andere folgten. Diese «social clubs», deren Mitgliederschaft geheim gehalten wurde, waren eine Mischung aus Serviceklubs wie Rotary, Zünften und Freimaurerlogen. Diejenigen, die auch Bälle und Paraden an Mardi Gras organisieren, werden Krewe genannt. Sie bestanden ursprünglich vor allem aus wohlhabenden Weissen. Afroamerikaner, Juden und Frauen waren nicht zugelassen.

Ab Ende des 19.Jahrhunderts kamen dann die afroamerikanischen «social aid and pleasure clubs» hinzu, die unter anderem für die Behandlungskosten von Kranken und die für New Orleans typischen Begräbnisse mit den Blaskapellen aufkamen.

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Die bekannteste dieser «schwarzen» Krewes ist Zulu, die bis heute existiert. 1949, als die Stadt noch streng segregiert war, wählte sie den berühmtesten Sohn New Orleans’, den Jazztrompeter Louis Armstrong, zu ihrem «König».

1992 wurde es den Krewes verboten, bei der Aufnahme von Mitgliedern Gruppen zu diskriminieren. Einige alte Klubs wie Comus entschieden sich darauf, keine Paraden mehr durchzuführen. Obwohl formell offen, sind die meisten etablierten Krewes bis heute entweder weiss oder schwarz geprägt und bestehen mehrheitlich aus Männern.

Dafür gibt es inzwischen auch Frauen-Krewes, wie Iris oder Muses, und neue, diverse wie die Red Beans.

Sex in der Kläranlage

Als wir zurück auf der Strasse sind, ziehen die geschmückten Wagen, «floats» (Flosse) genannt, in einer langen Parade mit Highschool-Marschkapellen und Majoretten durch die Quartiere. Die Krewe-Mitglieder auf den Wagen werfen den Zuschauern kleine Geschenke zu – vor allem die bunten Perlenketten. Viele Wagen nehmen auf satirische Weise, ähnlich wie Schnitzelbänke, Bezug auf Aktualitäten, zum Beispiel Trump, Taylor Swift, die Migrationskrise und sogar Abtreibung. Es ist, als würde man in einer riesigen, dreidimensionalen Zeitung blättern.

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Einiges erschliesst sich einem Aussenstehenden nicht sofort. Ein Wagen der «Krewe d’Etat» zum Beispiel zeigt eine Türe mit der Aufschrift «Secret Sex Room», die zu einem Zimmer mit allerhand obszönen Andeutungen führt, zum Beispiel der vieldeutigen Aufforderung «Wrap your pipe».

Stelly klärt gerne auf. Im letzten Sommer sei publik geworden, dass es in einer Wasseraufbereitungsanlage der Stadt einen «geheimen Sexraum» gegeben habe, wo sich Angestellte getroffen hätten, erklärt sie.

Die Nachricht sorgte für Aufregung, weil «Wasser» in New Orleans ein Dauerthema ist – nicht erst seit den verheerenden Überschwemmungen im Jahr 2005. Damals kamen durch den Hurrikan «Katrina» fast zweitausend Menschen ums Leben, die Schäden beliefen sich auf 125 Milliarden Dollar. Seit ihren Anfängen vor dreihundert Jahren wird die Stadt an der Mississippi-Mündung von Hochwasser heimgesucht; seit einigen Jahren kommen Dürren hinzu.

Weil der Wasserstand des Mississippi letztes Jahr stark gesunken war, wurde Meerwasser Richtung New Orleans gespült. Dank Regenfällen ging es glimpflich aus, aber das Schreckgespenst des ungeniessbaren Salzwassers, das auch die Landwirtschaft gefährdet, bleibt.

Zudem ist die Wasserinfrastruktur veraltet, insbesondere die Pumpen und Rohre, worauf der Spruch vom «umwickelten Rohr» – unter anderem – Bezug nimmt. Der empörte Tenor der Bevölkerung angesichts des Sexskandals war also, so Stelly: «Existieren wirklich keine anderen Prioritäten für die Leute von der Wasserbehörde?»

Es gibt noch einen anderen Zusammenhang zwischen der Wasserproblematik und Mardi Gras. Weil all die Perlenketten von den Paradewagen in die Zuschauermassen geworfen werden und viele davon auf der Strasse liegen bleiben, werden bei Regen Millionen von Perlen ins Abwasser gespült. Die meisten der aus China stammenden Kügelchen enthalten Blei. Sie verstopfen nicht nur die Kläranlagen, sondern vergiften auch das Wasser.

Um die Umweltbelastung zu vermindern, ging die Stadtverwaltung dazu über, die Gullys während Mardi Gras mit Sandsäcken abzudichten. Das führte dieses Jahr, bei heftigem Regen, prompt zu Überschwemmungen, und die Massnahme wurde heftig kritisiert.

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Angst vor einem Kulturverlust

Die Behörden haben also die Wahl zwischen überfluteten Strassen und Bleivergiftungen. Eine Alternative wäre der Verzicht auf die Perlen. Einige Krewes verteilen inzwischen anderen Plastik-Krimskrams. Andere wiederum warnen bereits vor dem Niedergang einer Tradition.

Die Angst vor einem Kulturverlust ist in New Orleans verbreitet. Geschürt wird sie auch von Overtourism, Gentrifizierung und steigenden Mieten, allesamt Themen, die der Karneval kritisch aufnimmt.

Nach «Katrina» sind viele der Geflüchteten, insbesondere arme Schwarze, deren Häuser zerstört wurden, nicht mehr nach New Orleans zurückgekehrt. Dafür kamen umso mehr Weisse, angezogen von gefallenen Grundstückspreisen und dem hippen Nimbus der Stadt, noch befördert durch die Netflix-Kultserie «Treme», die die Zerstörung der Stadt nach «Katrina» und den Wiederaufbau zeigt. Auch Airbnb-Wohnungen breiten sich aus und verändern nicht nur die demografische Zusammensetzung, sondern führen zu einem Immobilienboom und zum Anstieg der Mieten, die für die alteingesessene Bevölkerung zunehmend unerschwinglich werden. Das provoziert Ressentiments und Spannungen. Die Stadtverwaltung fördert den Trend, weil er Steuereinnahmen generiert.

«Eigentlich könnte der Hype eine gute Sache sein, von der alle profitieren», sagt Stelly, deren Familie seit vielen Generationen in Treme wohnt. «Denn die Infrastruktur ist vernachlässigt, die Schulen sind schlecht, es gibt wenige Jobs. Aber ausgerechnet die Alteingesessenen in den Quartieren, wo nun Ateliers, Galerien und Hipstercafés aus dem Boden schiessen, haben nichts vom Aufschwung und reagieren mit Abwehr.» Vor einigen Jahren hat die Stadtverwaltung im Rahmen der Tourismusförderung in New Orleans Kasinos zugelassen. «Die Bürgermeisterin will die Stadt offenbar zu einem neuen Las Vegas machen – lukrativ, aber seelenlos, künstlich und oberflächlich.»

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Die Kommerzialisierung befeuert auch Rassenkonflikte, weil sie auf die Zuwanderung von Weissen zurückgeführt wird. Zum ersten Mal regiert mit LaToya Cantrell zwar eine schwarze Frau die Stadt, aber die Enttäuschung insbesondere unter Afroamerikanern ist gross. Vielleicht verfahren viele besonders streng mit der Bürgermeisterin, die seit 2018 im Amt ist, gerade weil sie dachten, mit ihr würde nun alles anders.

So ergiesst sich zum Mardi Gras auch Spott und Hohn über Cantrell wegen ihrer Reise nach Ascona, der Schwesterstadt von New Orleans, wo die Bürgermeisterin das Jazzfestival besuchte. Sie unternahm im letzten Jahr offenbar mehr als ein Dutzend Firstclass-Flüge nach Europa, Asien und Afrika, und der Schweiz-Trip wurde zum Sinnbild für Geld- und Zeitverschwendung.

Bei Stellys Gästen in ihrem geschmückten Haus herrscht der Tenor, dass auch Schwarze und Frauen offenbar nach kurzer Zeit vom System vereinnahmt werden und sie das Wohl der Stadt vor lauter Annehmlichkeiten bald einmal aus den Augen verlieren.

Die Spannungen rund um Rassenfragen und Gentrifizierung zeigen sich auch an der Kontroverse um die Krewe Red Beans. Die roten Bohnen sind eine Anspielung auf eines der Hauptnahrungsmittel in New Orleans. Das Besondere an den Red Beans ist, dass ihr Gründer Devin De Wulf sie 2009 als eine explizit moderne, diverse und inklusive Krewe lancierte. Bei «Diversität» lauert, zumindest in New Orleans, jedoch immer auch das Minenfeld «kulturelle Aneignung».

Es begann damit, dass De Wulf während Covid-19 Geld sammelte, um die überfüllten Spitäler mit Essen zu versorgen. Es kam über eine Million Dollar zusammen. Er organisierte weitere Hilfen für Schulen und initiiert nun das Projekt Beanlandia, ein ausgedehntes Kultur- und Gemeinschaftszentrum.

Einige werfen ihm vor, Spendengelder veruntreut zu haben, andere, sich als «weisser Retter» aufzuspielen, wieder andere, dass er schwarze Kultur instrumentalisiere und missbrauche, um sich selbst zu inszenieren. Seine Unterstützer brandmarken die Kritik als Ausdruck von Neid und Lokalchauvinismus gegenüber einem ambitionierten Neuzuzüger.

Als die Red Beans am Montag durch das traditionell afroamerikanische Quartier Treme ziehen, sprechen auch dort manche Bewohner von illegitimer Aneignung, ja sogar einer Invasion.

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Für sie verkörpert De Wulf genau die Art von wohlhabenden, gebildeten Weissen, die sich nun in diesen Vierteln breitmachen, von der Lebendigkeit der Stadt profitieren und sie genau dadurch töten. Zur Veranschaulichung zeigt Stelly auf ein paar Leute, die schon Stunden vor der Parade Klappsessel und Leitern am Strassenrand aufgestellt haben und nun ihr Revier verteidigen, als sei es ein Privatgrundstück. «Typisch», sagt sie. «So etwas gab es früher nicht.»

Schwarze «Indianer»

Es existiert allerdings eine Tradition in New Orleans, die von aussen wie ein Paradebeispiel von kultureller Aneignung aussieht, jedoch akzeptiert, ja geliebt wird. Die Rede ist von den Mardi Gras Indians – Schwarze, die sich als Native Americans verkleiden.

Was sonst verpönt ist, wird hier gefeiert, und auch die «Indianer» haben kein Problem damit. Das hat mit der Geschichte zu tun. Die Ursprünge des Brauchs gehen mindestens bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts zurück. Es heisst, dass die ersten Mardi Gras Indians ehemalige Sklaven gewesen seien. Durch die Kostümierung zeigten sie sich den Native Americans gegenüber dankbar, die ihnen bei der Flucht durch die Sümpfe geholfen hatten.

Die sogenannten «Black Indian tribes» fertigen ihre aufwendigen Kostüme, zu denen insbesondere der Federschmuck gehört, in wochenlanger Arbeit selbst und zeigen sich nur zwei Mal pro Jahr in der Öffentlichkeit: an Mardi Gras und am sogenannten Super Sunday im März. Jedes Jahr wird ein neues Kostüm hergestellt.

Stelly erinnert sich, dass die «schwarzen Indianer» früher einen schlechten Ruf hatten. «Es war Gang-Rivalität, sie bekriegten sich», sagt sie. «An Mardi Gras nützten sie die Anonymität der Maskierung aus, um zu stehlen und zu killen. Aber das ist lange her. Heute wird nur noch darum gekämpft, wer der Schönste ist.»

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Noch eine andere Praxis existiert in New Orleans, die sonst absolutes No-Go ist. Nachdem sich die Zulu-Krewe geöffnet und auch Weisse zugelassen hatte, wurde beschlossen, dass diese sich das Gesicht schwarz anmalen können. Blackfacing gilt in den USA als Rassismus in Reinkultur, weil es an die Minstrel-Shows aus dem 19.Jahrhundert erinnert, in denen Weisse sich als dumme, aber gutmütige Schwarze verkleideten und sie so der Lächerlichkeit preisgaben.

Im Kontext der Zulu-Krewe wurde das Blackfacing nun aber kurzerhand zum «black make-up» umdefiniert und wurde legitim. So etwas, meint Stelly, sei nur in New Orleans möglich, der Stadt der wilden Mischungen und der unwahrscheinlichsten Bestäubungen.

Bitches, Crossdresser und Donut-Drift

Interessanter als die grossen Paraden sind die kleinen, die nirgendwo im Internet angekündigt werden und schon gar nicht auf dem offiziellen Veranstaltungskalender figurieren. Am Samstagabend trifft sich zum Beispiel die Krewe of Bitches zwischen den Betonpfeilern einer Überführung im Niemandsland des verrufenen Viertels St.Roch.

Das Motto ihrer Parade ist «Pferde». Einige haben sich verkleidet, andere begnügen sich damit, ein Stofftier mitzutragen, auf einem Steckenpferd oder einem Besen zu reiten. Im Gegensatz zu den offiziellen Paraden, die den Hauptstrassen folgen, mäandrieren die Bitches durch halbdunkle Nebenstrassen, Brachland, Industrieruinen. Die Atmosphäre ist dystopisch, eher Punk und Untergrund als Fun. Weil sowieso die meisten Teilnehmer queer oder Crossdresser sind, müssen sie sich gar nicht mehr gross verkleiden.

Wenige Stunden nachdem die Parade St.Roch verlassen hat, kommt es im Quartier zu einem Desaster. Wie vielerorts am Samstagabend führen auch hier ein paar irre Raser eine Slideshow auf. Mitten auf einer Kreuzung, zwischen all den Passanten, legen sie einen Donut-Drift hin, bei dem ein Auto wie ein Kreisel um die eigene Achse dreht.

Ein Fahrer verliert jedoch die Kontrolle über seine Corvette und rast in eine Gruppe Fussgänger. Er flüchtet, worauf ein paar Junge aus der Menschenmenge heraus auf den davonrasenden Wagen zu schiessen beginnen. Sie erwischen ihn nicht, dafür wird ein Unbeteiligter schwer verletzt. «Typisch New Orleans», sagt ein Paradebesucher bloss, der die News gerade auf dem Handy gesehen hat.

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Die inoffizielle «Bitches-Krewe» ist ein Sammelbecken von queeren Punks, Freaks und Untergrundkünstlern.

Einen anderen Charakter hat die Alternativparade am Montagnachmittag. Sie findet auf Flössen und Booten statt. Die Gruppe junger Leute, die sich Loup Garou (Werwolf) nennt, trifft sich in der Bayou St.John, wo sie am Ufer ihren Gummibooten und Kanus den letzten Schliff geben. Das grösste Floss schwimmt auf leeren Ölfässern, die behelfsmässig an Holzpalette geschnürt werden. Eine Band mit Steel-Guitar, Geige und Trommeln spielt darauf. Als das Gefährt in See sticht, jubeln alle: Wie durch ein Wunder geht das Ungetüm nicht unter. An der Brücke stehen Angler. An den Haken hängen allerdings keine Köder, sondern Schnapsfläschchen, die sie so zu den Punk-Seeleuten herunterlassen.

Wie die anderen Krewes kommentieren auch die Sumpfpiraten politische Geschehnisse. Sie sind allerdings auffällig monothematisch. Lokalpolitik, die Wahlen, der Ukraine-Krieg, das Klima – all das kommt nicht vor. Aber der Slogan «Free Palestine» und die palästinensische Flagge sind allgegenwärtig. Auf das Floss wurde der Slogan «Bulbancha stands with Palestine» gepinselt. Bulbancha ist der ursprüngliche, indianische Name des Gebiets, auf dem New Orleans gebaut wurde. Der Spruch suggeriert eine Gleichsetzung der amerikanischen Ureinwohner mit den Palästinensern, die dann beide von «Siedlerkolonialisten» vertrieben wurden. Bei anderen Teilnehmern wird die Situation der Afroamerikaner – inklusive Sklaverei – mit jener der Palästinenser gleichgesetzt.

Aus den Tiefen der Geschichte

Die eindrücklichste Parade ist jene der North Side Skull and Bone. Schwarze Bewohner von New Orleans gründeten die spirituelle Geheimgesellschaft, die sich nicht Krewe, sondern Gang nennt, 1819. Sie achteten streng auf die Anonymität ihrer Mitglieder. Bis heute sind sie stark geprägt von afrikanischen Traditionen und Voodoo.

Ihre Parade beginnt am Dienstag, also am eigentlichen Mardi Gras, morgens um fünf, wenn es noch stockdunkel und kalt ist. Den Ort erfährt man nur durch Mundpropaganda. Deshalb sind lediglich hartgesottene Anhänger dort und keine Bourbon-Street-Touristen. Erst heisst es, die Parade nehme ihren Anfang in einer einschlägigen Bar in Treme, dann an einer Privatadresse.

Schliesslich beauftragen die Geister den Anführer aber offenbar, ihnen im Mutterhaus der Baby Dolls zuerst ein Opfer darzubringen. Die Baby Dolls sind weibliche Mardi Gras Indians, die eine spirituelle Verbindung zu den Seminole, Native Americans aus dem nördlichen Florida, unterhalten.

Vor dem Haus ist ein Altar mit einem kleinen Sarg, einem Schildkrötenpanzer, schwarzen Puppen, weissen Kerzen, Rosen, Rum, einer afrikanischen und einer indianischen Holzfigur, einem Bildchen der Jungfrau Maria sowie einem Gefäss für die Voodoo-Gottheit Ogun errichtet worden. Unter Gesängen bringt die Skull-and-Bone-Gang den Geistern Trankopfer dar. Die Mitglieder tragen schwarze Gewänder mit aufgemaltem Gerippe.

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Weil man in der Dunkelheit nur das Weiss sieht, wirken sie wie nächtliche Skelette. Auf den Schultern tragen sie riesige Totenköpfe aus Pappmaché, in den Händen halten sie blutige Knochen. Der Anführer, «Sunpie», trägt Büffelhörner und Alligatorzähne, sein Gehilfe geht auf Stelzen herum, mit Speer und Zylinder. Halb Zombies, halb Ausserirdische, archaisch und futuristisch zugleich.

Die unheimliche Gruppe marschiert mit afrikanischen Trommeln durch Treme und geht von Haus zu Haus, um die Bewohner aufzuwecken. Flankiert wird die Gang von bunt geschmückten, lokalen Voodoo-Priesterinnen. Ihre Anführerin ist Kalindah Marie Laveau, eine Nachfahrin der legendären «Voodoo Queen» gleichen Namens, die offiziell 1881 starb, aber laut mehreren Einheimischen nachts immer noch durch die Gassen streicht.

Die nächste Station ist der hässliche Platz unter der Überführung Claiborne. «Der Ort ist für uns von historischer Bedeutung, weil der rücksichtslose Bau der Überführung Ende der sechziger Jahre das Viertel zweiteilte und killte», sagt Stelly, die sich seit Jahrzehnten für den Abriss des Betonungetüms engagiert.

Das Motto der Skull-and-Bone-Gang ist «You next». Das ist als Todeswarnung gedacht: «Vergiss nicht – vielleicht bist du als Nächster dran.» Aber es ist auch eine konkrete Aufforderung, wenn Chief Sunpie mit seinem Fliegenwedel auf einen Umstehenden zeigt. Dann muss dieser in die Mitte des Kreises treten und zu den hypnotischen Polyrhythmen der Trommler tanzen. Wenn die Gruppe den Eindruck hat, dass sich der Auserwählte wirklich hat gehen und von der Musik forttragen lassen, wird applaudiert, und er darf zurück an seinen Platz.

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Nächste Station ist St.Augustine, die erste schwarze katholische Kirche der USA. Sie wurde 1841 eingeweiht und besass auch Kirchenbänke, die für Sklaven reserviert waren. An der Seite befindet sich das «Grab des Unbekannten Sklaven», symbolisiert durch eine Eisenkette in Form eines Kreuzes. Sunpie fordert wieder Einzelne zum Tanz auf, die inmitten der tranceartigen Sounds wirken, als ob ein Geist in sie fährt. In einer Rede erklärt Sunpie, dass sich irgendwann alles ändern werde. In der Zwischenzeit solle man aber nicht vergessen zu leben.

Bevor es zu spät ist

Obwohl der makabre, ernste, schwarz-weisse Umzug scheinbar nichts zu tun hat mit dem sonst üblichen fröhlichen, bunten Fasnachtstreiben, so kommt er doch dem ursprünglichen Sinn von Mardi Gras, der Spannung von Ekstase und Endlichkeit, so nahe als möglich. Die Skelette passen zur scherzhaften Übersetzung von Karneval als «Fleisch ade» und zur mittelalterlichen Auffassung vom närrischen, ausgelassenen Treiben am Vorabend von Asche, Hunger und Tod.

Pflücke den Tag, solange du noch kannst. Das Motto gilt für die Afroamerikaner, aber auch für die Stadt New Orleans, in deren Geschichte sich die wildeste Musik, Tanz, Exzesse und Katastrophen abwechseln.

Wie Stelly sagt: «Viele Aussenstehende sind erstaunt, dass wir Schwarzen das Leben so ausgelassen feiern können, während wir doch so viel erlitten haben. Sie verstehen nicht, dass das eine mit dem anderen zusammenhängt. Wir geniessen den Moment, gerade weil wir wissen, dass wahrscheinlich schon das nächste Desaster auf uns wartet und morgen alles vorbei sein kann.»

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